DOMINIK: Herr Schröder, die Welt der Kunst ist ein Haus mit vielen Türen. Durch welchen Eingang sind Sie zunächst in das Gebäude der schönen Künste gelangt?
KLAUS ALBRECHT SCHRÖDER: Bei mir war das reiner Zufall. Ich wuchs in einer sehr musischen Familie auf, in der Musik und Literatur dominierten. Meine erste Freundin aber hatte einen Großvater, der seinerseits die damals legendären Schroll-Kunstbände produziert hat. Damals war Drucker noch ein Beruf, der höchste Kompetenz und Sensibilität erforderte. Und so lernte ich durch ihn Hieronymus Bosch kennen und bin schlagartig in die Kunst auf eine Weise gestoßen worden, die meinen Weg vorzeichnete. Ich bin dann bei einem Künstler in die Lehre gegangen. Das war Fritz Aigner, ein fantastischer Realist aus Linz. Und nur weil ich durch einen ganz kurzen Aufenthalt beim Militär nicht im Herbst nach der Matura die Aufnahmeprüfung an der Akademie machen konnte, habe ich schließlich das Sommersemester, schräg konnte man an der Akademie nicht einsteigen, am kunsthistorischen Institut verbracht. Ich dachte mir, ich ginge anschließend an die Akademie. Aber als ich die Kunstgeschichte kennenlernte, wusste ich, dass das mein Metier ist.
Aber ursprünglich wollten Sie den kreativen Weg gehen und Künstler werden?
So habe ich es mir vorgestellt. Aber durch Zufall, so könnte man das nennen, bin ich auf diesen Weg geraten. Und ich bin bis heute fest davon überzeugt, dass Menschen mit einer so großen Leidenschaft an einem Thema, die unbedingt etwas werden wollen, auch irgendwann auf deren Weg gestoßen werden. Wäre es nicht in Zusammenhang mit meiner ersten Freundin passiert, wäre es vielleicht später einmal der zufällige Besuch in einem Museum gewesen.
Und nachdem Sie durch den Großvater Ihrer ersten Freundin auf diese großen Künstler gestoßen sind, begannen Sie Hieronymus Bosch nachzuzeichnen?
Nein, ich habe gezeichnet wie Hieronymus Bosch. Das Surreale war damals, in den Siebzigerjahren, en vogue und omnipräsent. Das heißt, meine großen Vorbilder sind die frühen Radierungen von Ernst Fuchs aus den Vierziger- und frühen Fünfzigerjahren geworden, und die Gemälde aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren von Salvador Dalí. Alles, was ich gezeichnet habe, ist geronnen. Ob das Bäume waren, oder Uhren oder Menschen. Alles ist geronnen und hat sich in die Landschaft ergossen. Ein Surrealismus, der mir immerhin in der Matura gewährleistet hat, dass ich durchgekommen bin. In einigen Fächern ging es mir überhaupt nicht gut, aber der Maturavorsitzende hat, nachdem er meine Zeichnungen sah, gesagt, er wolle nicht eines Tages in einer Fußnote eines berühmten Künstlers sehen, dass er an der Matura gescheitert sei, weil er in Mathematik durchgefallen war. Denen war klar, dass sie mir den Weg des Künstlers nicht verbauen wollten. Kurioserweise bin ich das dann gar nicht geworden. Wenn ich heute auf diese Zeit zurückblicke, verstehe ich gut, warum mich meine ehemaligen Kommilitonen manchmal mit irgendetwas erpressen und sagen: Wenn Du dieses und jenes nicht tust, veröffentlichen wir deine frühen Zeichnungen. [Schmunzeln]
Was gab Ihnen die Kunst, was Sie sich nicht auch woanders hätten holen können?
Das kann ich gar nicht mehr beschreiben, so überwältigend war dieses Erlebnis. Dass ich mit fünfzehn oder sechzehn Jahren auf einmal bis drei Uhr früh in meinem Zimmer nur mehr gezeichnet habe. Dass ich nach Hause kam und wollte sofort zeichnen. Am Nachmittag ging ich zu Fritz Aigner. Dort war ich bis Acht Uhr oder halb Neun. Dann ging ich nach Hause und habe wieder weitergezeichnet. Wer eine solche Leidenschaft für ein Thema entwickelt, der ist nicht aufzuhalten. Dabei bin ich mir sicher. Es war dieses Visuelle. Eine Welt zu erfinden, die es nicht gibt. Eine Bereicherung zu schaffen, die der Film, den ich ebenfalls liebe, nicht schafft. Eine visuelle Welt, die still ist, stumm ist, und einen nicht anschreit, in einer Gegenwart, in der Zerstreuung, Lautstärke, Monumentalität, Größe, Überwältigungsstrategien dominieren. In dieser Welt kommt einem kontemplativen Charakter, der sich versenken will, dieses ganz leise Etwas sehr entgegen. Heute kann ich manchmal ein paar Wochen ohne Kunst leben, aber dann fange ich an, richtig zu leiden. Ich brauche das, und wenn ich in den Urlaub fahre, gehe ich gerne auch Wandern, aber am nächsten Tag bin ich wieder in einem Museum.
Kennen Sie Kunst als Überbrückung? Überbrückung von Einsamkeit beispielsweise?
Nein, überhaupt nicht. Nein. Dafür müssten wir jetzt definieren, was wir unter Einsamkeit verstehen. Alleinesein versus Einsamkeit – Was ist davon das Negative?
Unter Einsamkeit verstehe ich ein Gefühl.
Also die Kompensationstheorie trifft sicher zu, ja. Die Frage ist, was man kompensiert. Kunst ist definitiv ein Fluchtraum aus der Wirklichkeit. Den betritt man ja auch, wenn man Vivaldis Die vier Jahreszeiten hört oder einen Balzac liest. Man flüchtet in eine andere Welt, in der man sich einrichtet, in der man seine Helden hat, Personen mit denen man sich identifiziert, Figuren die man verachtet…
Eskapismus?
Die Debatte, die jetzt aufgetaucht ist, zwischen Ullrich und Neo Rauch, dem man Eskapismus vorgeworfen hat, verkennt wie sehr jede Kunst eine Alternative entwirft, die mit eskapistischen Weltverdrängern schlecht beschrieben ist. Jede Utopie ist ein Gegenentwurf, und sie kann geradezu ein Treibriemen werden um die Wirklichkeit zu ändern. Die Kunst erschafft alternative Lebensentwürfe, alternative Weltbilder. Eskapismus beschreibt nicht, worum es dabei geht. Wer sich in solche Welten versenken kann, wird sicher auch meist ein großer Humanist sein, weil er Alternativen kennenlernt.
Ist Kunst denn eine Lehrerin der Empathie?
Ich glaube nicht, dass Kunst irgendjemandem irgendetwas lehren kann, der nicht diese Empfindsamkeit mitbringt. Daher werde ich auch immer dafür votieren, dass man akzeptieren muss, wenn jemand auf beiden Ohren taub oder auf beiden Augen blind ist, und dennoch ohne Blindenstock herumläuft, weil er einfach diesen Sinn nicht hat und sich nicht stundenlang über eine Zeichung erfreuen kann. Niemand kann etwas dafür, wenn er eine bestimme Empfindsamkeit nicht hat. Und Empathie ist für mich doch zu sehr an den Menschen gebunden. Ob wir uns in unser Gegenüber einfühlen können, das ist etwas, das es in der Kunst braucht. Wohl auch, damit ich mich in das Gefühl eines Menschen vertiefen kann, den ich gar nicht sehe, nicht kenne, der nicht in meinem Maßstab existiert. Aber das beschreibt noch nicht ausreichend die Kunst. Empathie ist etwas anderes.
Auch für ekpathische Menschen gibt es, könnte ich mir vorstellen, einen Zugang zur Kunst. Kontext beispielsweise.
Und dennoch geht es immer um die Frage der Empfindsamkeit. Die müssten wir jetzt durchdeklinieren. Ich fürchte, das würde zu weit führen.
[Pause]
Wissen Sie wessen Geburtstag heute ist, Herr Schröder?
Welcher Tag ist heute?
Der Vierzehnte.
Und wessen Geburtstag?
Der 184ste James Tissots.
Ja? Das wusste ich nicht.
Sind Sie ein Bewunderer seiner Kunst?
Ich mochte ihn schon einmal mehr. Das hat sehr viel mit meiner Leidenschaft für Sherlock Holmes zu tun. Als noch keiner Sherlock Holmes gelesen hat, habe ich ihn mit zwölf oder dreizehn Jahren schon rauf und runter gelesen und auch auswendig gekonnt. Und James Tissots viktorianische Bilder von London, aber auch die späteren, als er nach Paris ging, seine Schiffsbilder; Die sind nichts anderes als Illustrationen einer Epoche, in der Arthur Conan Doyle seinen Holmes erfunden hat. Interessanterweise hat er mit den Impressionisten ausgestellt, obwohl er alles andere als ein Impressionist war, aber auch Degas war kein Impressionist und wird heute unter den Parade-Impressionisten geführt.
Erlauben Sie mir eine Einschätzung?
Sicher.
Ich glaube, im Impressionismus sind Sie am ehesten beheimatet.
Nein. Dafür bin ich in der Kunst viel zu breit aufgestellt, als dass man mich auf dreißig Jahre reduzieren könnte. Nein, das wäre wirklich falsch. Vollkommen falsch.
Daraus ziehe ich, dass Sie so etwas wie einen Lieblingskünstler nicht haben.
Eben. Das geht bei jemandem wie mir nicht.
Picasso mögen Sie zum Beispiel sehr. Ein vielfältiger Künstler.
Absolut. Aber wenn ich Ihnen sage, dass ich auch Zink mag, und wenn ich Ihnen sage, dass ich für einen Biermann einen Mord begehen könnte, im metaphorischen Sinne. Die Kunst ist so reich, dass Sie nicht auf etwas reduziert werden kann. Auch die Musik nicht. Niemanden, der Kunst oder Musik oder beispielsweise Literatur liebt, können Sie auf einen Lieblingsroman reduzieren.
Doch, ich denke schon. Wenn auch nur zeitweise. Wenn ich die Verlorenen Illusionen von Balzac lese, dann ist das in demselben Augenblick auch mein Lieblingsroman, bis ich einen anderen Lieblingsroman finde.
Da gebe ich Ihnen recht. Zeitweise gibt es das sogar immer. Denn ein Bild, das ich ansehe und das mir gefällt, ist gerade mein Lieblingsbild. Nur was ich mir zehn Minuten später ansehe, kann dann ebenfalls mein Lieblingsbild sein.
So schnell geht das bei Ihnen.
Natürlich. In dem Augenblick, in dem ich mit großer Intensität etwas betrachte, das mich begeistert, wird alles andere verdrängt. Das ist vielleicht der große Unterschied zu einer Liebe. In der Kunst darf man ruhig alle zehn Minuten fremdgehen. [Schmunzeln]
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Ausstellungsräume mit ganz zarter minimalistischer Klaviermusik zu untermalen?
Nicht wirklich.
Ich habe vor kurzem sehr schöne Van Goghs gesehen und dabei Tatiana Lisovskaya gehört, eine fantastische Pianistin. Und die Bilder erschienen mir in einem ganz neuen Kontext.
Also die Frage, ob man in einer Ausstellung Musik spielt oder nicht, bewegt mich schon seit längerem. Es gibt ja auch schon Beispiele, bei denen das gemacht wurde. Bei einer Nitsch-Ausstellung zum Beispiel. Der Vorteil der Musik ist, dass man im Unterschied zum Sehen und zu anderen Sinnen nichts wegklappen kann. Das ist da und zieht einen in eine gewisse Emotion. Der Nachteil ist, dass genau diese Emotion dominiert. Ich könnte Ihnen zu diesem Van Gogh ganz andere Musik vorspielen und Sie hätten ganz andere Empfindungen. Aber Sie hätten vor dem Van Gogh höchstwahrscheinlich immer nur die Empfindung, die die Musik in Ihnen auslöst. Da sind die Augen letztendlich schwach gegen den Muskel des Hörsinns.
Aber Beethovens Fünfte, beispielsweise, ist sicher etwas sehr anderes als die Sunflowers von Lisovskaya.
Ja, aber bei ein und demselben Bild wird immer die Emotion der Musik siegen.
Diesen Kontext bestimmen Sie zum Teil auch mit, wenn Sie die Bilder in Vorbereitung auf eine Ausstellung hängen lassen.
Da haben Sie recht. Jede Ausstellung ist ein Kunstwerk sui generis. Ein schlechteres oder ein besseres oder vielleicht sogar ein sehr gutes. Ich halte das Hängen, das Inszenieren, das Auswählen der Nachbarschaft, für eine der wichtigsten Tätigkeiten überhaupt. Glücklicherweise bin ich Generaldirektor der Albertina und kann mir daher vorbehalten, dass ich das immer selber mache.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie hängen lassen, wenn Sie einem Bild seine Nachbarschaft geben?
Ich wünschte, ich würde jetzt nicht antworten, weil die Frage ebenso herausfordernd wie banal ist, aber ich muss es fast tun, weil ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch immer sage, worauf sie zumindest basal achten sollten. Etwa Maßstäblichkeit. Wenn man mit Reproduktionen arbeitet, dann sieht man zwei Sujets und denkt, die passen wunderbar zusammen. Man plant sie in der Hängung nebeneinander. Und dann hat man einen kleinen neben einem großen Maßstab, was einfach nicht geht, weil das eine das andere erschlägt. Noch banaler: Rahmen. Man denkt sich, zwei Rahmen passten zusammen, und doch erschlagen Sie einander. Da gibt es so viele ganz banale oberflächliche Faktoren, die mitspielen. Oder das eine Werk verlangt 60-70 Lux, das andere sollte mit 200 Lux beleuchtet werden. Das alles ist Handwerk. Das ist der Teil der Frage, den ich beantworten kann.
Der Rest ist Gespür, Erfahrung?
Der Rest ist jahrzehntelange Erfahrung. Wenn man, wie ich, schon 300-400 Ausstellungen gehängt hat, dann passiert das auf einer sehr intuitiven Ebene. Weil ich quasi jeden Fehler schon zehnmal gemacht habe und weiß, wie ich ihn vermeide.
Sie haben schon so viele Künstler hängen lassen. Wie kann man Ihnen noch trauen?
[Stille]
Ein schlechter Schmäh, offenbar.
Ein Sickerwitz. Ich hab ihn schon verstanden. Höher hängen lassen meinen Sie.
Nein, jetzt finde ich ihn auch nicht mehr gut. Wir wollen lieber das Thema wechseln: Ich habe mich schon öfter gefragt, warum impressionistische Gemälde oft in prächtige Goldrahmen gerahmt werden, und nicht in simplere Rahmen, wie es sich die Impressionisten gewünscht hätten.
Jeder Besitzer hat das Recht, sein Bild so zu rahmen, wie er möchte. Im Belvedere hängt zum Beispiel ein Monet in einem dicken Glanzgoldrahmen. Ein Rahmen, wie ihn Monet seinerzeit bis aufs Blut bekämpft hat. Und oft müssen Sie so ein Bild bei einer Ausstellung dann nur wegen des Glanzgoldrahmens ganz alleine hängen, weil es seine Nachbarschaft ruinieren würde.
Und was die Impressionistenrahmen angeht: Das hat begonnen in den 1885er-Jahren, als ein Händler vollkommen erfolglos die Impressionisten in Paris angeboten hatte, dann in die USA gegangen ist mit den 300 Gemälden und dort alle problemlos verkaufen konnte. Und die Amerikaner haben alles in holzgeschnitzte vergoldete Rahmen gegeben, die plötzlich zu Impressionistenrahmen wurden. Aber genau dem Gold haben die Impressionisten den Krieg erklärt. Die ersten impressionistischen Ausstellungen wurden ja aus zwei Gründen kritisiert. Und einer davon waren deren Rahmen. Keine Goldrahmen mehr. Abgewaschene Rahmen. Weiße Rahmen. Und es haben keine drei Rahmen die Geschichte überlebt.
Eine Abschlussfrage, Herr Schröder: Matisse sagte, Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel…
Das gilt nicht für Kunst, aber das gilt für Matisse. Für seine Auffassung von Kunst. Andere Künstler würden das nicht sagen. Rubens würde sagen, Kunst soll zum richtigen und wahren Glauben führen. Da Vinci würde sagen, Kunst soll Erkenntnis sein. Solche Statements sagen mehr aus über denjenigen, der sie trifft, als über die Kunst. Die Summe dieser Aussagen beweist aber auch die Breite und Weite der Kunst. Kunst ist alles, was wir als solches bezeichnen.
Lieben Dank für Ihre Zeit, Herr Schröder!
Sehr gerne!
Interview vom 14 • Oktober • 20 in Wien